Hotel Silence
![Buchseite und Rezensionen zu 'Hotel Silence' von Auður Ava Ólafsdóttir](https://m.media-amazon.com/images/I/41x0SFOgX0L._SL500_.jpg)
Ein Mann beschließt zu sterben. Doch konventionelle Methoden sind schnell verworfen, möchte er doch keiner ihm nahestehenden Person den Leichenfund zumuten. Also begibt er sich an einen Ort, an dem ein Krieg Land und Leute erschüttert hat. Die erwartete Anonymität ist ein Trugschluss, schließlich hat Jonas sein Werkzeug dabei und kann helfen.
Die ungewöhnliche Handlung lässt sich herunterbrechen auf menschliche Gefühle und Beziehungen. Beide Seiten, der Fremde und die Bewohner des nicht eindeutig benannten Landes, zeigen sich verletzlich und nahbar. „Die meisten Narben auf der Haut sind flach und blass und zeigen nur noch einen Bruchteil der Verletzung, die zu ihrer Entstehung führte.“ Die Umstände entfalten gleichzeitig das Potenzial für feinen Humor (welches Tier kommt wohl im Restaurant auf den Tisch) und für Hoffnung (wie die Veränderung in Kinderbildern als Traumaverarbeitung).
Es werden Details eingeflochten, wie Tagebuchseiten, die der Protagonist selbst wiederentdeckt, die eine Nähe zur Figur aufbauen und dennoch das Unverständnis für den Todeswunsch schüren. Auch wenn einiges unausgesprochen bleibt, entspinnt sich eine gleichermaßen eigentümliche wie eindringliche Geschichte. Sprachlich gelingt ganz wunderbar der Balanceakt zwischen Schwere und Leichtigkeit. Ich habe mich gut im Geschehen eingefunden und die Lektüre sehr genossen.
Jónas, 49 Jahre alt, Midlifecrisis. Eingefahrene Abläufe, keine lohnenden Perspektiven mehr, die Mutter leidet an zunehmender Demenz und lebt im Altersheim, die Frau ist weg, die Tochter ist angeblich gar nicht seine, dabei liebt er sie ganz offensichtlich - und umgekehrt. Jónas weiß nur noch nicht genau, wie er sich umbringen will, dass er es tut, steht für ihn jedoch außer Frage. Nachdem er verschiedene Szenarien durchdacht hat, beschließt er, dass weder Nachbarn noch seine Tochter seine Leiche finden sollen, stattdessen geht er auf Reisen. Ziel ist ein Land, das gerade einen Krieg hinter sich hat, Spuren der Zerstörung überall – im Gepäck hat Jónas lediglich seinen Werkzeugkoffer.
"Sie erzählt, der Krieg habe zwischen Familien getobt, zwischen Nachbarn, deren Kinder in dieselbe Klasse gingen, zwischen Arbeitskollegen, zwischen Mitgliedern desselben Schachclubs, zwischen Stürmer und Torwart aus derselben Fußballmannschaft." (S. 75)
Die Hinweise deuten auf das ehemalige Jugoslawien hin, auf das heutige Kroatien – aber das ist im Grunde gar nicht wichtig. Wesentlich ist, dass sich Jónas in einem heruntergekommenen Hotel einquartiert, für Irritation sorgt, indem er verkündet, er mache dort Urlaub, und sich dann weitere Gedanken darüber macht, wann und wie er sich am besten umbringen könnte. Doch es gibt einige Dinge, die ihn stören, und schneller als gedacht, kommt sein Werkzeugkoffer zum Einsatz. Dusche, Lampe, Schranktür – überall hapert es, und Jónas wäre nicht Jónas, wenn er das nicht mal eben richten würde.
Seine Fähigkeiten sprechen sich schnell herum, und bevor er sichs versieht, setzt er sein handwerkliches Geschick auch für andere ein. Zunächst für die junge Frau, die mit ihrem Bruder das Hotel führt, später auch für andere Frauen im Dorf, denen er eine Zukunft baut. Dabei gewährt der Roman kurze, angerissene Einblicke in einzelne Schicksale, und da kann man auch schon mal schlucken.
"Mein Unglück ist allenfalls lächerlich..." (S. 111).
Jónas kommt nicht umhin, sein eigenes Leiden in Relation zu den Erlebnissen der Hotelbetreiberin und der anderen Frauen im Dorf zu setzen, den vielfachen Tod zu registrieren, der hier uneingeladen zahllose Menschen hinweggefegt hat, das Unglück, die Starre, das unfassbare, übergreifende Trauma, das alle Generationen erfasst hat.. Und auch, wenn Leidensformen und -ursachen nicht miteinander vergleichbar sind, verändert Jónas allmählich seine Perspektive. Zudem wird er wieder wirklich gebraucht, und er ist es, der mit dafür sorgt, dass in dem Dorf wieder ein kleiner Funke Hoffnung erscheint.
"Anstatt aufzuhören zu existieren, könntest Du aufhören, du zu sein, und ein anderer werden."
Stilistisch gesehen war ich vom Roman ebenfalls sehr angetan. Es gibt hier viele zitatwürdige Sätze, poetische Anklänge, die mich angesprochen haben, kleine skurrile und humorvolle Szenen, die die zuweilen doch sehr melancholisch-düstere Stimmung gekonnt durchbrechen – der Text entwickelte auf mich einen traumartigen Sog, der mich den Roman fast in einem Rutsch lesen ließ.
Das einfühlsame Porträt eines Mannes, dem das Leben abhandengekommen ist und der weit reisen muss, um wieder zu sich selbst zu finden, erinnert in seiner tragisch-komischen Art und mit seinen spröde-liebenswürdigen Charakteren vielleicht ein wenig an "Ein Mann namens Ove" von Fredrik Backman, entwickelt letztlich aber seinen ganz eigenen Stil.
Für mich eine gelungene Mischung aus Unterhaltung und Ernsthaftigkeit, Berührung und leisem Humor. In jedem Fall eine Empfehlung!
© Parden
Kurzmeinung: Verreise nie ohne Isoband im Gepäck. Auch eine kleine Bohrmaschine könnte hilfreich sein.
Jonas ist ein Schatz! Er repariert alles, was ihm aufgetragen wird, denn er hat eine Schwäche für Frauen und stellt sich geschickt an, obwohl er kein Handwerker ist. Meine Lieblingsstelle: „Eine Frau bittet mich um etwas, und ich erledige es. Das bin ich von zu Hause gewohnt“.
Jonas ist zwar ein Schatz, aber er ist momentan auch sehr unglücklich, eine schlechte Nachricht und verunglückte Beziehungen lassen ihn am Leben verzweifeln, er hat genug. Mit seinem Werkzeugkasten in der Hand, verlässt er sein Zuhause und fährt in ein wunderschönes sonniges Urlaubsland im Osten, Kroatien womöglich, ein Land, das vor kurzem noch vom Krieg verheert wurde. Dort möchte er sein Leben aushauchen. Den Werkzeugkasten braucht er, um womöglich einen Dübel in die Wand zu schlagen, woran man eine Schlinge befestigen könnte. Aber, mit einem Werkzeugkasten in der Hand, die geneigte Leserschaft ahnt es schon, bekommt Jonas eine Menge zu tun und wird seine Lebensmüdigkeit nicht pflegen können.
Der Kommentar:
Der ein bisschen schnodderige Ton im Roman macht Spaß, die Figuren, die die Autorin ins Buch stellt, auch. Der Gegensatz, lebensmüder Wohlstandsbürger contra mit Müh und Not Überlebende eines Bürgerkriegs, Überlebende, die „alles“ gesehen haben, wird von der Autorin Audur Ava Olafsdottir in vielen liebenswerten Kleinigkeiten zelebriert. Jonas legt sein Leid auf die Waagschale, seins gegen das derjenigen, die sagen müssen: „Es wäre schön, man könnte aufwachen und hätte niemanden getötet.“
Es ist märchenhaft und unrealistisch, wie Jonas in dem Hotel Silence, in dem er unterkommt, so nach und nach alle ihm unterkommenden, bzw. ihm zugeschobenen Probleme löst, einschließlich diverser Traumata, eigene wie fremde, aber man nimmt dies hin, denn wir brauchen ein wenig Optimismus und Märchen in der Welt. Beeindruckend indes wie Täter und Opfer miteinander auszukommen versuchen in diesem Land, in dem in den Wäldern die Haut der Bäume geplatzt ist und überall Minen liegen, Tiere wie Menschen selten alle Gliedmaßen behalten haben.
Stilistisch ist die Autorin gut aufgestellt, die inzwischen in der Unterhaltungs-Literatur inflationär gebrauchte Phrase „holte tief Luft“ hätte die Autorin weglassen können, sie braucht sie nicht, hat genug andere Ausdrucksmöglichkeiten.
Fazit: Ein Roman, dessen Figuren man schnell liebgewinnt. Ein Roman, der mit wenigen Mitteln ein wenig Versöhnung herbeischreibt. Eine schöne Sommerlektüre.
Kategorie: Gute Unterhaltung
Verlag: Inselverlag im Hause Suhrkamp, 2023
„In einem Land des Todes ist es weniger dringend, zu sterben.“
Als Jónas mit dem Gedanken spielt, Selbstmord zu begehen, ist er Ende vierzig. Seine Frau hat ihn gerade verlassen und ihm gebeichtet, dass seine erwachsene Tochter Vatnalilja nicht seine leibliche ist. Die demente Mutter lebt im Heim, freut sich auf Jónas' Besuche, auch wenn sie sie kurze Zeit später bereits wieder vergessen hat. Jónas hadert sowohl mit seinem Leben als auch mit seinem geplanten Suizid. Der Gedanke, seine Tochter könnte seinen Leichnam finden, scheint ihm unerträglich. Eine Lösungsmöglichkeit sieht er im Ausland, wo Fremde ihn finden würden. Kurzerhand beschließt er, in ein vom Krieg zerstörtes und gezeichnetes Land zu fliegen. Er reist mit einem Werkzeugkoffer im Gepäck sowie der stillen Hoffnung, vor Ort auf eine Mine zu treten und sich nicht selbst töten zu müssen.
Im Hotel Silence läuft der Hotelbetrieb gerade erst wieder an, die Zimmer sind renovierungsbedürftig, das Restaurant noch nicht wieder geöffnet. Dort angekommen, repariert er zunächst das Nötigste in seinem Zimmer. Schnell spricht sich Jónas’ handwerkliches Geschick herum. Er wird um weitere Reparaturarbeiten gebeten, tritt in Beziehung zu den Menschen vor Ort und plötzlich scheint der Tod noch eine Weile warten zu können. Die Autorin zeigt eindrücklich, welche Verletzungen und Narben Menschen und Tiere in einem vom Krieg gezeichneten Land haben und welche Anstrengungen für einen Wiederaufbau nötig sind. Sichtbare und unsichtbare Verletzungen wiegen schwer und müssen ein Stück weit verdrängt werden, um überhaupt weiterleben zu können. Der Roman ist geprägt von einer melancholischen Grundstimmung, die immer wieder durch skurrile und schwarzhumorige Szenen unterbrochen wird. Jónas’ Perspektive auf sein eigenes Leben wandelt sich während seines Aufenthaltes im Hotel. Das alles erzählt die isländische Autorin Auður Ava Ólafsdóttir ruhig und poetisch. Dabei hält sie eine gewisse Distanz zum Hauptprotagonisten Jónas aufrecht. So erfahren wir kaum etwas über den Ursprung von Jónas’ Verletzungen. War ich zu Beginn noch neugierig, alles über Jónas’ Narben zu erfahren, trat dieses Bedürfnis für mich im Verlauf der Lektüre immer mehr in den Hintergrund. Ich konnte mich gut auf Jónas’ Umgebung in der Fremde einstellen, in der alle versuchen, sich neu in einem Alltag zurechtzufinden. Sehr stimmig transportiert die Autorin dabei den Zustand der Erschöpfung der Menschen aufgrund des Erlebten und Durchlittenen, aber auch den zart aufkeimenden Lebenswillen und die Hoffnung auf "Normalität". Die Kraft, das Leben wieder selbst in die Hand zu nehmen, kehrt langsam zurück. Der Roman entwickelt sich ruhig, kreist oftmals um das Thema Narben, hat mich in seiner Zartheit und Zerbrechlichkeit, aber auch in seiner unter der Oberfläche liegenden Kraft emotional berührt. Ich mag „Hotel Silence“ ohne Einschränkung und kann mit den zahlreichen Leerstellen und unbeantworteten Fragen, die ich im Kontext als realistisch und glaubwürdig erachte, gut leben.