Nordstadt

Buchseite und Rezensionen zu 'Nordstadt' von Annika Büsing
4.25
4.3 von 5 (4 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Nordstadt"

Im Norden der Stadt hängen die Hoffnungen so tief wie der Novemberhimmel. Wer hier liebt, rechnet nicht mit einem Happy End. Schon gar nicht Nene, Anfang Zwanzig und Bademeisterin, die für das Unglück eine ganz eigene Maßeinheit hat. Ihre Überlebensstrategie: Bahnen ziehen, versuchen zu vergessen, pragmatisch sein. Dann lernt sie im Schwimmbad Boris kennen, der Puma-Augen hat und ihr nicht sofort an die Wäsche will. Boris, der an Kinderlähmung erkrankt war, für den es keine Jobs gibt, nur Schimpfwörter oder Mitleid. Der Schmerzen hat und die Welt mit Verachtung behandelt. Ihr erstes Date wird prompt zum Debakel, aber Nene zeckt sich in Boris’ Herz, und er sich in ihres. Er kapituliert vor ihrer Direktheit und ihrem Lebenswillen, sie vor seinem Entschluss, sein Mädchen glücklich zu machen. Boris wird für Nene die Geschichtsschreibung ändern, er wird sie anlügen, er wird sie hängenlassen. Ihre Liebe ist wie jede Liebe: nicht perfekt. Aber sie berührt beide auf eine Weise, die sie vergessen oder nie gekannt haben. Annika Büsing erzählt in ihrem Debüt eine herzzerreißende und gleichzeitig berauschend lebensbejahende Geschichte über alte Narben und den Mut, neue hinzuzufügen.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:128
Verlag: Steidl Verlag
EAN:9783969990643

Rezensionen zu "Nordstadt"

  1. derb, klug und witzig

    Ich möchte mit einem Auszug aus der Biografie der Autorin beginnen:
    "Annika Büsing ist als Arbeiterkind im Ruhrgebiet geboren und aufgewachsen, mit einer ausgeprägten Vorliebe für Punkrock und Bücher. Nach dem Abitur schloss sie zunächst eine Ausbildung in einem Verlag ab, entschied sich dann aber, Germanistik und Theologie auf Lehramt zu studieren. Nach dem Studium zog es sie Richtung Norden, zunächst nach Island zum Jobben und Schreiben, dann nach Hamburg zum Referendariat. Inzwischen lebt sie mit ihrem Mann und ihren zwei Söhnen wieder in Bochum, wo sie an einem Gymnasium unterrichtet. Die Liebe zu Punkrock und Büchern ist geblieben. Nordstadt ist ihr erster Roman."
    Wie wunderbar, dass ihre Liebe zu Punkrock und Büchern geblieben ist und dass sie vielmehr selbst ein Buch geschrieben hat.
    Der Titel Nordstadt kommt daher, dass die Geschichte in einer nicht näher spezifizierten Stadt im Ruhrgebiet verortet ist, deren sozialer Brennpunkt im Norden liegt. Dort, im Norden der Stadt, wohnt auch die Protagonistin Nene. Nene ist als Arbeitenkind in einer höchst problematischen Familie aufgewachsen. "Wir waren aufreizend asozial und aufreizend arm." Der Vater war ein Säufer und Schläger, der die ganze Familie terrorisierte. Nenes Beziehung zur Mutter war auch nicht sonderlich gut und obendrein kurz, denn die Mutter starb an Krebs als Nene acht Jahre alt war. Um das Trauma komplett zu machen, wird Nene mit siebzehn nachts auf dem Spielplatz von einem Klassenkameraden vergewaltigt. Die einzig schönen Dinge in Nenes Kindheit waren ihr Hund Toni und der Schwimmverein. "Ich kann richtig gut schwimmen. Ich habe es mit fünf Jahren gelernt. Innerhalb von zwei Wochen. Meine Betreuerin beim Jugendamt hat mich zu einem Ferienkurs angemeldet und sie hat meinem Vater gesagt, dass mir das guttut, wenn ich mit anderen Kindern zusammen bin in den Ferien. [...] Jedenfalls konnte ich schnell richtig gut schwimmen und durfte deswegen nach den Ferien weiter zum Schwimmen gehen. Erst in die Kurse, wo man die Schwimmabzeichen macht, dann zum freien Training, zweimal die Woche. Das Schwimmbad war mein Zuhause. Über Jahre."
    Nordstadt ist eigentlich eine Liebesgeschichte. Aber zum Glück ohne Kitsch. Nene ist Mitte Zwanzig und arbeitet als Bademeisterin in genau dem Schwimmbad im Norden der Stadt, in dem sie als Kind immer geschwommen ist. (Wie schön, dass Nene ihr Hobby zum Beruf gemacht hat.) Eines Tages kommt Boris zum Schwimmen. Boris ist als Kind an Polio erkrankt und hat verkrüppelte Beine. Er kann eklig sein, wenn er mal einen Scheißtag hat (und davon hat er viele), aber er hat auch Manieren, wenn er will. Wenn er mit einem Merkzettel versehen wäre, stünde dort drauf: "Gibt leicht auf." In der Schule wurde er wegen seiner Behinderung gehänselt und er leidet immer noch an den Spätfolgen seiner Krankheit, weshalb es ihm schwerfällt, eine Ausbildung zu beginnen. Als Leser_in begleitet man Nene und Boris bei ihrer Annäherung aneinander, wobei die Erzählung vom Kontextsprüngen gekennzeichnet ist und immer wieder Nenes Vergangenheit eingewoben wird. Es geht um Menschen am Rande der Gesellschaft, um alte Narben und den Mut, sich neue hinzuzufügen.
    Ich fand Nordstadt derb, klug und witzig, und es ist jetzt schon klar, dass ich auch den nächsten Roman von Annika Büsing auf jeden Fall lesen werde.

  1. 4
    06. Apr 2022 

    Nene und Boris

    „Ich habe mal gelesen, dass in vielen Städten der soziale Brennpunkt im Norden liegt und nicht im Süden. Woran das liegt, stand nicht dabei.“

    „Nordstadt“ von Annika Büsing ist also eine Geschichte aus dem Norden einer Stadt, welche auch immer. Allerdings müsste ein Schwimmbad vorhanden sein. Denn Nene, die Ich-erzählende Protagonistin dieses Romans, ist Bademeisterin.
    Ihren Traumberuf musste sie sich hart erkämpfen, denn sie wuchs unter Voraussetzungen auf, die weder eine Schul- noch eine Berufsausbildung begünstigten. Mutter verstorben, Vater ein arbeitsloser Säufer, der seine Tochter verdrosch und sich ansonsten nicht um sie kümmerte. Dank seiner übertriebenen Gründlichkeit waren die Spuren seiner Aggressivität Nene ins Gesicht und an den Körper geschrieben, was wiederum die Aufmerksamkeit der Lehrer hervorrief, die nicht nur das Jugendamt auf den Plan riefen, sondern am Ende auch dafür sorgten, dass Nene trotz aller widrigen Umstände ein Ziel in all der Hoffnungslosigkeit hatte. Sie machte daher ihren Schulabschluss und eine Berufsausbildung.
    Mittlerweile ist Nene Anfang 20 arbeitet als Bademeisterin, hat den Kontakt zu ihrem Vater abgebrochen und versucht, trotz aller seelischen Wunden, die sie erlitten hat, optimistisch zu sein.
    Eines Tages lernt sie im Schwimmbad Boris kennen und verliebt sich in ihn. Boris erkrankte als kleines Kind an Kinderlähmung. Seitdem ist er gehbehindert, was nicht nur in seiner Kindheit für Spott und herablassendes Mitleid gesorgt hat.
    Der Roman „Nordstadt“ erzählt die Geschichte einer Liebe zweier junger Menschen, die in ihrem jungen Leben zutiefst verletzt worden sind. Diese Liebe ist nicht einfach, denn beide misstrauen dem Glück, Boris noch mehr als Nene. Ob dieser Roman ein Happy End hat, bleibt offen.

    Die Autorin Annika Büsing hat mit Nordstadt ihren Debütroman geschrieben. Eigentlich ist sie Gymnasiallehrerin im Ruhrgebiet, mit einer Vorliebe für Punkrock und Bücher. Ob ihre Protagonistin Nele die gleichen Vorlieben teilt, lässt sich nicht sagen, wundern würde es mich aber nicht. Der Sprachstil dieses Romans ist einer Anfang 20 jährigen Ich-Erzählerin, angemessen: salopp, frech, unverbraucht, auf den Punkt gebracht.
    Leser wie ich (Ü50) werden jedoch über manch vulgäre Beschreibung stolpern. So viel Deutlichkeit hätte ich nicht gebraucht, doch das ist Geschmackssache und sicherlich von der Altersklasse des Lesers abhängig. Ich schätze, dass ich in meinem Alter eh nicht zur Zielgruppe dieses Romans gehöre, der sich meines Erachtens an die 20 – 30 Jährigen adressiert.
    Dennoch hat mich diese warmherzige Geschichte berührt, weil sie sowohl Traurigkeit als auch Hoffnung miteinander vereint. Zwei junge Menschen, die spüren, dass sie Seelenverwandte sind, aber dem Glück noch nicht trauen können. Wie auch, wenn das Glück ihnen bisher fremd war?

    Leseempfehlung!

    © Renie

  1. 4 Sterne

    Klappentext:
    „Im Norden der Stadt hängen die Hoffnungen so tief wie der Novemberhimmel. Wer hier liebt, rechnet nicht mit einem Happy End. Schon gar nicht Nene, Anfang Zwanzig und Bademeisterin, die für das Unglück eine ganz eigene Maßeinheit hat. Ihre Überlebensstrategie: Bahnen ziehen, versuchen zu vergessen, pragmatisch sein. Dann lernt sie im Schwimmbad Boris kennen, der Puma-Augen hat und ihr nicht sofort an die Wäsche will. Boris, der an Kinderlähmung erkrankt war, für den es keine Jobs gibt, nur Schimpfwörter oder Mitleid. Der Schmerzen hat und die Welt mit Verachtung behandelt. Ihr erstes Date wird prompt zum Debakel, aber Nene zeckt sich in Boris’ Herz, und er sich in ihres. Er kapituliert vor ihrer Direktheit und ihrem Lebenswillen, sie vor seinem Entschluss, sein Mädchen glücklich zu machen.
    Boris wird für Nene die Geschichtsschreibung ändern, er wird sie anlügen, er wird sie hängenlassen. Ihre Liebe ist wie jede Liebe: nicht perfekt. Aber sie berührt beide auf eine Weise, die sie vergessen oder nie gekannt haben. Annika Büsing erzählt in ihrem Debüt eine herzzerreißende und gleichzeitig berauschend lebensbejahende Geschichte über alte Narben und den Mut, neue hinzuzufügen.“

    „Nordstadt“ ist das Debüt von Annika Büsing. Ihre Figur Nene lässt sie hier irgendwie kühl, etwas unnahbar dem Leser gegenüber treten und ich muss sagen, das passte alles so perfekt zur Situation und vor allem zum Schauplatz. Nene ist eben nur so ganz anders. Sie sagt was sie denkt und das ganz unverhohlen. Nene und Boris haben Augen für einander - wie schön! Aber hier entsteht nicht die säuselnde Liebesgeschichte wie man vermuten könnte, denn zwischen den Beiden muss erstmal etwas auftauen, wenn es sich den je auftauen lässt. Die beiden haben jeder einen schweren Rucksack zu tragen und es gehört Mut dazu, diesen vor jemanden zu öffnen. Nene ist die Direkte und damit muss auch Boris erstmal klarkommen (und auch wir Leser). Alles nicht einfach, für beide nicht. Aber was sich dann daraus entwickelt, nach vielen Hoch‘s und Tief‘s ist mehr als gelungen. Büsing benutzt eine harte und weiche Wortwahl zugleich. Kann das gut gehen? Kann es, wenn man es dosiert einsetzt und immer weiß wo man die Kurve nehmen muss. Ich muss wirklich sagen, Büsing hat mich überrascht und auch begeistert mit ihrer Geschichte. Sie ist anders und genau das tut mal gut. Sie zeigt das wahre Leben ohne geschönte Textstellen.
    Dieser kurze Roman war mal ein mehr als gelungener Einstieg für Büsing in die Autorenwelt. Ich freue mich sehr auf weitere Werke aus ihrer Feder! 4 von 5 Sterne für „Nordstadt“.