Jenseits von Putin

Buchseite und Rezensionen zu 'Jenseits von Putin' von Gesine Dornblüth
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5 von 5 (1 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Jenseits von Putin"

Format:Broschiert
Seiten:208
Verlag: Verlag Herder
EAN:9783451399787

Rezensionen zu "Jenseits von Putin"

  1. 5
    09. Mär 2023 

    Was ist los mit der russischen Gesellschaft?

    Reportagen, Interviews und Gespräche mit normalen Menschen (keine Experten), Erlebtes, Analysen, Meinungen

    Vor dem Lesen solcher Bücher sollte man in etwa wissen, wer sie geschrieben hat. Hier sind es Gesine Dornblüth, promovierte Slavistin, von 2012 bis 2017 Korrespondentin in Moskau und Thomas Franke, Journalist, Autor, Regisseur, auch von 2012 bis 2017 in Moskau.

    Der Untertitel ist schon schockierend: 'Russlands toxische Gesellschaft'; er wird im Folgenden anhand von Interviews, Reportagen und Analysen erläutert. Natürlich kann man einwenden: das ist nicht repräsentativ, aber für mich ergibt sich dennoch ein erhellendes Bild und das ist leider ziemlich traurig und bedrückend.

    Es scheint, als ob die russische Gesellschaft in großen Teilen von Intoleranz und Fremdenfeindlichkeit, von Angst vor Repressionen oder Gleichgültigkeit, von Manipulation und Propaganda geprägt ist. Und das wird hier in einzelnen thematischen Kapiteln erläutert, mit Interviews verdeutlicht und mit Fakten untermauert. Ich picke einiges heraus.

    Die Erziehung von Kindern und Jugendlichen
    Eigentlich wissen wir es, aber dennoch: wenn man sich das ganze Ausmaß noch einmal vergegenwärtigt, kann man nur entsetzt sein, welche Gesellschaft da erzogen wird. Was soll daraus nur werden? Fahnenappell, Singen patriotischer Lieder ist noch das Harmloseste. Die Lehrer bekommen Handreichungen, wie mit den Schülern der Ukrainekrieg zu besprechen ist, es gibt eine militärisch-patriotische Erziehung, Jugendorganisationen ähnlich dem früheren Komsomol – kurz und gut – man weiß es auch aus anderen Veröffentlichungen: eine unglaubliche Manipulation und Indoktrination von Kindern und Jugendlichen.

    Opposition / Kriminalisierung
    Es wird immer schwieriger: der Zugang zu internationalen Massenmedien wird verhindert, Organisationen (wie Memorial) werden verboten, es gibt Verhaftungen wegen Bagatellen wie 'Blumen niederlegen', Kriminalisierung von denen, die aufbegehren, noch repressivere Gesetze und eine unglaubliche, übelste Lügenpropaganda im Staatsfernsehen. (Das kann sich jeder im Internet selbst angucken.) Kein Wunder, dass sich Angst und Apathie ausbreiten und keiner mehr aufzubegehren wagt.

    Stalinzeit / Sowjetherrschaft
    Es gibt Opfer fast in jeder Familie, aber keine Aufarbeitung der Vergangenheit. Eine Entstalinisierung hat es nie gegeben; Traumata bleiben zurück und falsche Vorstellungen.

    Gewalt in der Gesellschaft
    Sie scheint allgegenwärtig: in der Familie, in der Armee, im Strafvollzug.

    Fazit

    Es werden noch viele andere Themen angesprochen, z.B. das Verhältnis zur Ukraine oder die Rolle der Orthodoxie. Wer von uns hat nicht diesen Patriarchen Kirill vor Augen? Wer hat nicht die Äußerungen Putins zur Ukraine im Ohr?

    Alles in allem ergibt sich also ein düsteres Bild. Die russische Gesellschaft scheint krank zu sein. Sie hat Putin erst möglich gemacht so wie Hitler damals ohne das Mitmachen und die Zustimmung der Deutschen nicht möglich gewesen wäre. Daraus ergibt sich eine bedrückende Folgerung: Selbst wenn Putin 'weg' ist (wie auch immer) und nicht ein noch Schlimmerer nachfolgt, die russische Gesellschaft bleibt.

    Man kann es also drehen und wenden, wie man will: das Bild ist düster und wenig hoffnungsvoll. Eine Änderung hin zur Demokratie ist in einer solch indoktrinierten und mit Propaganda überschütteten Gesellschaft eine langwierige Sache. Und auch, wenn es bedrückend und beängstigend ist, wollte ich mehr darüber wissen. Wir haben zu lange die Augen vor diesem ganzen Komplex verschlossen. Die Autoren deuten zum Schluss eine Schuld auch des Westens an, was aber den Rahmen dieses Buches sprengen würde. Ich werde mich weiter informieren...