Das unsichtbare Leben der Addie LaRue: Roman
Im Jahr 1714 soll Adeline LaRue heiraten, sie soll in ihrem kleinen französischen Dorf bleiben, Kinder haben und relativ früh ausgezehrt sterben. Nein, das ist nicht ihr Weg. Obwohl ihre mütterliche Freundin Estele sie warnt, sich an die Geister zu wenden, die nur in der Dunkelheit hervorkommen, schließt Adeline mit eben einem solchen einen Pakt. Sie darf frei sein, doch die Freiheit hat einen hohen Preis. Addie gewinnt Jugend und möglicherweise ewiges Leben, doch sie schwebt durch die Zeit wie ein Geist, niemand erinnert sich an sie. Bis eines Tages alles anders ist.
Welch ungewöhnliches Schicksal erlebt Adeline LaRue, die viel lieber Addie ist. Wie ein flüchtiger Schatten reist sie durch die Jahre und Jahrzehnte. Menschen, die sie treffen, vergessen sie sobald sie ihr den Rücken kehren. Das gibt ihr große Freiheit, aber sie ist dadurch auch heimatlos und ohne Bezugsperson. Falls sie doch einen Bezug gewinnt, so merkt nur Addie dies, der andere vergisst immer wieder. Allerdings kann sie sich nehmen was sie braucht, selbst wenn sie mal was klaut oder in eine Wohnung eindringt, ist es sofort vergessen. Der, der ihr gab, will auch nehmen, doch Addie findet auch nach Jahrhunderten immer noch Dinge, die sie entdecken kann, sie gibt nicht auf.
Mit fast sechshundert Seiten ist dieser Roman mit phantastischen Einflüssen ein echter Brocken. Gerade zu Beginn stellt dies doch ein kleines Hindernis dar, denn die Handlung entwickelt sich recht langsam und zumindest eine gewisse Gefahr besteht, dass man aufgibt. Doch setzt man eine Weile ab und liest dann weiter, erschließt sich auf einmal der Reiz dieses ungewöhnlichen Werkes. Plötzlich gelingt es, sich in Addie hineinzuversetzen. Ihr langes Leben durch mehrere Jahrhunderte. Ihre Einsamkeit, selbst ihre Eltern können sich nicht mehr an sie erinnern. Die Schwierigkeiten sich mit dem Einfachsten zu versorgen. Doch auch ihre Freude an Neuem, sei es neue Sprachen, neue Länder oder neues Essen. Nur mit den neuen Menschen ist es schwierig, denn die erinnern sich ja nicht. Wird sie irgendwann ihre Seele aufgeben? Nach kleinen Anfangsschwierigkeiten bannt einen Addie LaRue vor die Seiten.
Zutiefst originelle Geschichte
In einem kleinen französischen Dorf im Jahr 1714 soll Addie La Rue zwangsverheiratet werden, doch sie wünscht sich mehr vom Leben als die ihr zugedachte Rolle als Ehefrau und Mutter. Sie will die Welt sehen, will neue Dinge erleben, will frei sein. Also fleht sie die alten Götter um Hilfe an und schließt einen faustischen, verhängnisvollen Pakt: Sie wird ewig leben, vollkommen selbstbestimmt – aber niemand wird sich je über den flüchtigen Moment hinaus an sie erinnern.
Daher ist Addie zutiefst einsam und durchwandert dennoch mit unbändiger Lebenslust die Jahrzehnte und schließlich Jahrhunderte. Sie erlebt Revolutionen und Kriege, bestaunt technologische Entwicklungen, stürzt sich in Kunst, Literatur und Musik. Und eines Tages trifft sie einen Buchhändler, der sie nicht vergisst.
V. E. Schwab schöpft das Potential dieser Geschichte voll und ganz aus, in zügellosem kreativem Schaffensdrang. Dabei umschifft sie gekonnt die üblichen Klischees – sowohl bezüglich der Handlung, als auch der Charaktere – und setzt sich über Genregrenzen hinweg. Ist es Fantasy? Ist es eine Liebesgeschichte? Oder ist es eine Parabel über die Marginalisierung von Frauen in der Geschichtsschreibung? Ja, all das.
Die Handlung ist unerwartet düster, oft sogar brutal und gnadenlos. Addie mag unsterblich sein, doch sie ist nicht immun gegen Schmerz und Hunger. Besonders in den ersten Jahrzehnten ihrer neuen Daseinsform ist sie gezwungen, sich für ein paar Münzen und einen Schlafplatz zu erniedrigen, und dennoch reicht es kaum für eine halbwegs erträgliche Existenz. Das ist oft herzzerreißend und schwer zu lesen, aber Addie besinnt sich immer wieder auf die hoffnungsfrohe Magie des Lebens – auf den Zauber von Kunst, Literatur, Musik und Architektur, mit dem der Mensch sich kleine Momente des Glücks ertrotzt.
Zwischen Dunkelheit und Licht, Tragik und Lebenslust entfaltet sich eine unwiderstehliche Sogwirkung, fesselnd und voller rascher, unerwarteter Wendungen.
Addie mag zu einer geisterhaften Existenz verdammt sein, als Protagonistin ist sie indes unvergesslich. Sie ist überraschend zwiespältig, denn die jahrhundertelange Einsamkeit hat ihre Menschlichkeit Stück für Stück erodiert, und dennoch kann man sich ihrer Sehnsucht nach einem selbstbestimmten Leben nur schwer entziehen.
Andere Menschen sind zwangsläufig nur Randerscheinungen in ihrer Geschichte. Zwar verbringt sie mit einigen von ihnen Monate, aber es sind Monate immer wiederkehrender erster Begegnungen und daher notgedrungen oberflächlich. Und so ist der Dämon, den sie letztlich “Luc” tauft, über Jahrhunderte hinweg die einzige echte Bezugsfigur in ihrem Leben. Hier hätte V. E. Schwab leicht abdriften können in kitschige Romantasy, aber tatsächlich umkreisen sich Luc und Addie in einem ewigen erbitterten Kampf um ihre Seele – und Addie schenkt ihm nichts. Sie findet eine geniale Art, als Muse die Grenzen ihres Fluches auszuloten.
Henry, der dritte Hauptcharakter, ist ein sensibler, kreativer Mensch, der einerseits einen bestechenden Gegenpol zu Addies und Lucs zeitloser Andersartigkeit darstellt, andererseits aber auch seine eigenen überraschenden Abgründe und Geheimnisse verbirgt.
Der Schreibstil liest sich oft beinahe lyrisch, voll dichter Atmosphäre und lebendiger Bilder. Mal entwirft V. E. Schwab ein episches Panorama der Jahrhunderte, die Addie durchlebt, nur um dann wieder zu einer intimen Charakterstudie zu wechseln.
Fazit
Lange habe ich »Das unsichtbare Leben der Addie LaRue« vor mir hergeschoben, abgeschreckt vom Hype, der um diesen Roman gemacht wurde.
Aber was soll ich sagen: Der Hype ist meines Erachtens gerechtfertigt … Die Geschichte ist zutiefst originell, auch die Charaktere entziehen sich den üblichen Klischees, und der Schreibstil ist großartig. Aber vor allem sind die Themen weitaus tiefgründiger als erwartet – kann ein Mensch leben ohne echte Freundschaft oder Liebe? Was ist Leben, was nur Existenz?