Beifang: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Beifang: Roman' von Martin Simons
4.6
4.6 von 5 (5 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Beifang: Roman"

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:234
Verlag: Aufbau
EAN:9783351038793

Rezensionen zu "Beifang: Roman"

  1. "Bei uns war es schlimmer."

    Der Autor stellt seinem Buch ein kluges Zitat des ebenso klugen John Burnside voran, und damit ist die Stoßrichtung des Buches klar: es geht hier um Vaterschaft, um das, was man selber davon erzählt und um das, was andere einem davon erzählen.

    Der Ich-Erzähler Frank hat sich zwar mit Abitur, Studium und Wegzug seiner Familie entzogen, aber seine ehrgeizigen Lebenspläne zerschlagen sich, und er wurschtelt sich beruflich und auch privat mehr recht als schlecht durchs Leben. Der Verkauf und die Räumung des großelterlichen Zechenhauses lässt ihn nun auf Spurensuche gehen. Er trifft einige seiner 11 Onkel und Tanten, und wie bei einem Puzzle setzt er sich die Familiengeschichte, vor allem die Geschichte seines Großvaters Winfried zusammen.
    12 Kinder in einem 60 qm großen Zechenhaus. Es ist kaum zu glauben, dass es so viel Armut, so viel Hunger und Verwahrlosung im Deutschland des Wirtschaftswunders gegeben hat – und so viel rohe und brutale tägliche Gewalt, Demütigungen und soziale Missachtung.

    Da leuchtet das eigentliche große Thema auf: die Weitergabe von Traumata von einer Generation an die nächste, und der Ich-Erzähler erkennt seinen eigenen und den Platz seines Vaters in dieser Verstrickung.

    Und so erklärt sich auch der Titel: Beifang ist nicht nur der Name der Zechensiedlung bei Selm, sondern Beifang ist in der Fischersprache das, was eher zufällig ins Netz gerät und wieder ins Meer geworfen wird, teilweise schwer verletzt. Hier in diesem beklemmenden Roman wird dem Leser klar, dass vier Generationen der Beifang sind: die Kinder, der Vater und auch der Ich-Erzähler und sein Sohn. Sie haben überlebt, aber sind seelisch verwundet.

    Das alles erzählt Simons in einer unsentimentalen, immer ruhigen Sprache, ohne jede Larmoyanz. Sehr lesenswert!

  1. 5
    11. Aug 2022 

    Warum denkt man so wenig an das Gute?

    Martin Simons erzählt in seinem Roman „Beifang“ die Geschichte der Familie Zimmermann. Im Vordergrund stehen dabei die Väter und Söhne dieser Familie über vier Generationen.
    Den Anfang in der Generationenfolge macht Winfried Zimmermann, scheinbar ein Säufer, der seine Kinder schlägt, wovon er reichlich hat. Denn Winfried Zimmermann ist 12-facher Familienvater. Die Familie lebt während der Nachkriegsjahre in einer Zechensiedlung am Rande des Ruhrgebietes. Die Jahre des Wirtschaftswunders ziehen unbemerkt an der Familie vorbei, denn inmitten der Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs Deutschlands kommt die Familie mehr schlecht als recht über die Runden. Armut und Gewalt prägen das Familienleben der Zimmermanns. Man macht nicht viele Worte in dieser Familie. Und diese Sprachlosigkeit wird an die kommenden Generationen weitergegeben.
    Winfrieds Enkel Frank wird erst Jahrzehnte später, Fragen nach der Geschichte seiner Familie und der seines Großvaters stellen.
    Auf den ersten Blick scheint „Beifang" ein Familienroman wie einer von vielen zu sein, in dessen Mittelpunkt eine Familie mit einem vom Krieg traumatisierten Vater steht, der seine Kinder mit „strenger Hand" erzieht. Es ist daher ein leichtes, den Kindern eine, schwierige Kindheit zu bescheinigen. Und aus schwierigen Kindheiten entstehen Erwachsenenleben, die von mehr oder weniger seelischen Problemen geprägt sind. Das weiß doch jeder, dafür muss man kein Psychologe sein.
    Da derartige Familiengeschicke nichts Besonderes für die damalige Zeit waren und vielleicht sogar zu einem Klischee geworden sind, liegt es daher nahe, Franks strengen Großvater Winfried zu verurteilen.
    Anfangs trägt in diesem Roman auch nur wenig dazu bei, Winfried Zimmermann in einem anderen Licht zu betrachten, zumal die Onkel und Tanten, die Frank befragt, nur wenig Positives über ihren Vater zu berichten haben. Doch das wenige Positive reicht aus, um Frank und den Leser aufhorchen zu lassen. Aus dem Unmenschen Winfried wird eine
    Person mit unterschiedlichen Facetten, die viele Handlungen dieses Familienvaters vielleicht nicht verständlich, aber zumindest ansatzweise nachvollziehbar machen.
    „Warum dachte ich so wenig an das Gute und ließ es zu, dass sich immer nur das Andere in den Vordergrund drängte?"
    Werden schwierige Vater-Sohn-Beziehungen von Generation zu Generation durchgereicht? Zumindest bei der Familie Zimmermann ist dies der Fall. Denn auch Frank und sein Vater - Winfrieds Sohn - kommen nur dann am besten miteinander zurecht, wenn sich ihre Gespräche um Oberflächlichkeiten und Routinen drehen. Darüber hinaus schweigt sich Franks Vater Otto aus. Es gibt Dinge, über die spricht er einfach nicht.
    Diese Sprachlosigkeit findet sich auch zwischen Frank und seinem Sohn, der nach der Scheidung von Frank und seiner Frau bei der Mutter in München lebt. Durch die räumliche Entfernung flaut das Vater-Sohn-Verhältnis immer weiter ab. Indem sich Frank auf die Suche nach der Vergangenheit begibt, zeichnen sich leichte Ansätze ab, den Vater- Sohn-Beziehungen in diesem Roman eine neue Richtung zu geben.
    „Beifang" entwickelt sich im Verlauf seiner Handlung zu einem sehr vielschichtigen Familienroman, der sich von seiner anfänglichen Klischeebehaftung löst und einfaches Schwarz-Weiß- Denken über einen Menschen in ein buntes Persönlichkeitsbild verwandelt.
    Tatsächlich kommt auch die Spannung in „Beifang“ nicht zu kurz, da der Autor ein Spannungselement eingebaut hat, das die Handlung vorantreibt: die Frage nach den Todesumständen von Großvater Winfried.
    Ich betrachte dieses Spannungselement als Sahnehäubchen auf diesem literarischen
    Kuchenstück, wobei mir dieser Kuchen auch ohne Sahne geschmeckt hätte, zu sehr hat mich die Entwicklung der Protagonisten und deren Zusammenspiel in diesem Roman fasziniert.
    Mein Fazit:
    Ein außergewöhnlicher Familienroman, der Tiefen erreicht, mit denen man anfangs nicht rechnet. Leseempfehlung!

    © Renie

  1. Eine andere Vater-Spurensuche

    Der Titel der mich anfangs sehr befremdete, ist schnell geklärt. Beifang, ein Ortsteil von Selm. Beifang wird laut wikipedia hauptsächlich von der Zechensiedlung geprägt, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts für die Bergleute der Zeche Hermann (Hermann-Siedlung) errichtet wurde.
    Die Stilllegung der Zeche Hermann im Jahr 1926 hatte bedeutende Folgen für die damalige Gemeinde Selm und insbesondere für Beifang. Es kam zu grosser Armut, wie auch in den Folgejahren nach dem zweiten Weltkrieg.
    In dieser eh schon schweren Zeit 12 Kinder allein als Vater grosszuziehen, eine schier unmögliche Hürde. Die übernächste Generation macht sich anlässlich des Verkaufs des Zechenhaus auf Spurensuche. Wer war der Großvater, wichtig ist es gerade jetzt für den Enkel Frank. Er selbst stellt sich als Vater in Frage und will wissen, wie das damals war. Er trifft bei seinem Vater auf Schweigen und muss sich aus den Bruchstücken. die dessen zahlreiche Geschwister erzählen ein Bild machen.
    Heute weiss man, dass schwere Traumata, dazu gehört sicher das Aufwachsen in Armut und gewalttätiger Umgebung, auch Folgen für die nächsten Generationen haben können. In der Biologie ist erforscht, dass sogar das Erbgut verändert werden kann und die Nachkommen anfälliger für Stress und Angsterkrankungen sein können. Transgenerationale Trauma-Weitergabe ist ein relativ neues Forschungsgebiet, aber da ist wohl auch etwas dran. Und wieder bin ich bei dem Begriff Beifang. Hat man da was ungewollt mitbekommen? Wie Beifang beim Fischen.

  1. 5
    12. Jul 2022 

    Dreifacher Beifang

    „ Beifang“, so heißt nicht nur die Zechensiedlung am Rande des Ruhrgebiets, wo der Ich- Erzähler aufgewachsen ist, „ Beifang“ ist auch ein Begriff aus dem Fischereiwesen. So werden Fische und andere Meerestiere bezeichnet, die zwar im Netz gelandet sind, aber nicht das eigentliche Fangziel waren. Der größte Teil davon wird als Abfall wieder über Bord geworfen - manches überlebt schwer verletzt.
    Seelisch verwundete Überlebende sind beinahe alle, von denen Martin Simons schreibt.
    Frank Zimmermann, ein Mann Anfang Vierzig, ist der Ich- Erzähler. Obwohl er als erster aus der Sippe der Zimmermanns Abitur gemacht und ein Studium absolviert hatte, wurde nichts aus seinem Plan, ein erfolgreicher Journalist und Drehbuchautor zu werden. Stattdessen schlägt er sich als freier Texter mehr schlecht als recht durchs Leben. Er liebt seinen 12jährigen Sohn, sieht ihn aber nur zweimal im Jahr. Mit Marie, einer verheirateten Frau, verbindet ihn ein sehr loses Verhältnis. „ Wenn lebendig zu sein bedeutete, von Emotionen und Sensationen durchströmt zu werden, dann war ich eher tot.“ So beschreibt er sich selbst.
    Sind die Gründe für seine Bindungsunfähigkeit, seine Planlosigkeit in seiner Familiengeschichte zu finden?
    Als die Eltern ihr Haus verkaufen, um in eine Anlage für Senioren zu ziehen, reist Frank zurück ins Ruhrgebiet. Vielleicht gibt es ja noch Dinge, die er als Andenken behalten möchte. Über eine alte Holzkiste, die der Vater von seinem Vater geerbt hatte, versucht Frank ins Gespräch zu kommen. Doch der Vater hatte schon immer auf Fragen nach seiner Kindheit sehr einsilbig reagiert, erzählte höchstens einzelne, eher skurrile Begebenheiten .
    So beschließt Frank Kontakt aufzunehmen zu einigen der elf Geschwistern des Vaters. Bei den Gesprächen mit Onkeln und Tanten erfährt er manches. Und trotz unterschiedlicher Sichtweisen kristallisiert sich aus den vielen Episoden und Anekdoten das Bild einer Kindheit voll bitterster Armut, voller Gewalt und Perspektivlosigkeit..
    Die Großeltern waren kaum in der Lage, ihre zwölf Kinder mit dem Allernotwendigsten zu versorgen. Vom Wirtschaftswunder merkte die Familie nichts. Die Wohnverhältnisse waren äußerst beengt, Hunger war steter Begleiter, Schläge waren an der Tagesordnung. In der Siedlung waren die Zimmermanns als asoziale Außenseiter verrufen.
    Als Frank seinem Vater zum Geburtstag das Buch „ Die Asche meiner Mutter“ geschenkt hat, meinte dieser später nur „ Bei uns war es schlimmer.“ Wer Frank McCourts Autobiographie kennt, kann ermessen, was diese Aussage bedeutet.
    Obwohl die Geschwister nicht dumm waren, blieb ihnen schulischer Erfolg und beruflicher Aufstieg versagt. Früh mussten sie in ungeliebten Berufen Geld verdienen.
    Franks Vater wurde mit 18 Jahren selbst Vater und danach hieß es ein Leben lang hart arbeiten, damit es die eigene Familie mal besser hat.
    Martin Simons beschreibt hier eine bundesrepublikanische Familiengeschichte, wie sie nicht oft in der Literatur zu finden war. Erst in letzter Zeit gibt es Autoren, die diesem Milieu Beachtung schenken. Denn in der Realität gibt es diese Geschichten und es ist notwendig, davon zu erzählen.
    Der Autor fragt sich, was ein solches Aufwachsen mit einem macht. Wie verarbeitet man die Armut, die Gewalt? Über seinen Vater schreibt er : „Ich wusste ja nicht, was es ihn gekostet hatte, die eigene Vergangenheit zu überleben.“
    Erstaunlicherweise findet der Ich- Erzähler bei seinem Vater und dessen Geschwistern kein Selbstmitleid, keine Verbitterung, kein Jammern, eher ein trotziger Stolz, es trotzdem irgendwie geschafft zu haben.
    Der Ich- Erzähler hat sein Netz ausgeworfen und vieles eingefangen. Auch wenn nicht alle Fragen beantwortet wurden, so ergibt sein „ Beifang“ ein vielfältiges und faszinierendes Gesamtbild.
    Martin Simons schreibt nüchtern, völlig unpathetisch. Gleichwohl hat mich das Schicksal der Figuren berührt. Anschaulich schildert er die Zustände jener Zeit, lässt die einzelnen Protagonisten mit ihren Eigenheiten lebendig werden. Trotz des ernsten Themas ist der Ton leicht, sind manche Szenen unfreiwillig komisch. Auch das komplizierte Verhältnis zum Vater wird differenziert und glaubhaft dargestellt. Inwieweit der Text autobiografisch ist, kann ich nicht beurteilen. Authentisch wirkt er auf mich und gewidmet ist der Roman dem Vater.
    Das Buch wirft Fragen auf nach den Auswirkungen der Vergangenheit auf die Gegenwart, auch auf die Gegenwart der nächsten Generationen. Und es zeigt, wie stark die soziale Herkunft den Lebensweg beeinflusst.
    „ Beifang“ ist ein Roman, dem ich viele Leser wünsche.

  1. Spurensuche

    Da seine Eltern das Haus verkauft haben, soll Vincent entscheiden, welche der eingelagerten Dinge vom Dachboden er noch haben will. Als er ankommt, entdeckt er eine rote Kiste auf dem Sperrmüllhaufen, die von seinem Opa stammt. Vincent erinnert sich an diese Kiste und ihm wird wieder einmal bewusst, dass sein Vater nie über die Vergangenheit spricht und ziemlich einsilbig wird, wenn man ihm Fragen stellt. Also beschließt Vincent, sich in seiner großen Verwandtschaft umzuhören.
    Nachdem mich der Autor Martin Simons vor ein paar Jahren mit seinem Roman „Jetzt noch nicht, aber irgendwann schon“ angesprochen hatte, wollte ich auch diesen Roman unbedingt lesen. Doch dieses Mal wurde ich nicht wirklich gepackt. Der Schreibstil ist klar, nüchtern und eindrücklich. Den Charakteren kam ich nicht nah.
    Irgendwann kommen wohl bei vielen Menschen Fragen über die Vergangenheit und die Vorfahren auf. Oft hat man dann keinen Ansprechpartner mehr, der einem noch etwas erzählen könnte. Vincent hat immer gehofft, dass sein Vater von sich aus erzählt. Doch dann kommt der Moment, an dem Vincent feststellt, dass er selbst aktiv werden und seine Fragen anderswo stellen muss. Er trifft auf eigenwillige Verwandte und Freunde, die alle ihre Anekdoten erzählen, aber sich doch relativ bedeckt halten. Es war auch kein leichtes Leben, dass Vincents Opa Winfried und seine Frau Rosa hatten. Das Haus in der Zechensiedlung Beifang war zu eng für die vielen Kinder, das Geld zu knapp und Ruhe gab es auch nie. Es ging dort hart und sogar gewaltsam zu. Jeder musste sehen, wie er zurechtkam. Es waren Verhältnisse, an die sich niemand gerne zurückerinnert. Lieber verschließt man alles in sich und macht das Beste aus seinem Leben.
    Ein Roman über ein hartes beengendes Leben, der nachdenklich macht, mich aber nicht wirklich erreicht hat.