Das Wasser des Sees ist niemals süß

Buchseite und Rezensionen zu 'Das Wasser des Sees ist niemals süß' von  Giulia Caminito
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4 von 5 (3 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Das Wasser des Sees ist niemals süß"

Eine Frage der Klasse. Radikal unversöhnlich erzählt Giulia Caminito von nicht eingelösten Aufstiegsversprechen und den enttäuschten Träumen einer ganzen Generation junger Italiener – ein berührender, zorniger, großer Anti-Bildungsroman: Am Grund des Sees liegt eine versunkene Weihnachtskrippe, sein Wasser schimmert trüb, schmeckt nach Sonnencreme und Benzin. Hier, am Lago di Bracciano, bezieht Gaia mit ihrer Familie eine Sozialwohnung: der Vater, der seit einem Arbeitsunfall im Rollstuhl sitzt, der ältere anarchistische Bruder Mariano, die kleinen Zwillinge – und die Mutter Antonia, die so zupackend wie rücksichtslos alles zusammenhält. Ihre Tochter, blass, sommersprossig, dürr, soll nicht so enden wie sie, Bildung soll der Ausweg für Gaia sein. Doch die erkennt früh, dass Talent und zwanghafter Fleiß nicht ausreichen, um mitzuhalten – wenn man kein liebes Mädchen sein will, den filzstiftgrünen Pullover des Bruders aufträgt und sich kein Handy leisten kann. Konfrontiert mit Herabsetzungen, Leistungsdruck und Orientierungslosigkeit verwandelt sich Gaias stumme Verletzlichkeit in maßlose Wut, die sie zunehmend Grenzen überschreiten lässt. Giulia Caminito hat ein sanftes, raues, wundersam reiches Buch geschrieben: über eine Jugend in der Provinz, lächerliche Lieben, grundstürzende Dramen und eine junge Frau, die ihrer Herkunft nicht entkommt. Ein Roman mit einer unverwechselbaren Erzählstimme und Bildern, die haften bleiben wie ungeliebte Spitznamen.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:320
EAN:9783803133496

Rezensionen zu "Das Wasser des Sees ist niemals süß"

  1. 3
    05. Sep 2024 

    Ein wütendes Zeugnis einer jungen Frau

    Antonia hat vier Kinder und einen Mann, der nach einem schweren Arbeitsunfall im Rollstuhl sitzt. Seit Jahren kämpft sie um eine Sozialwohnung, denn wo sie jetzt sind, in einem einzigen Kellerraum, wo die Zwillinge in Karton schlagen, hält sie es nicht mehr aus. Sie schuftet Tag und Nacht um das Essen auf den Tisch zu bringen und führ ein strenges Regiment, einer mütterlichen Zuneigung unfähig.

    "Meine Mutter knallt die Gabel auf den Teller, hält das Messer aber fest in der Hand, sie verwendet es als Taktstock, sie ist die Dirigentin des Orchesters, sie dirigiert ihre schlechte Laune, die Symphonie ihrer Wut."

    Das sind die Rahmenbedingungen, unter denen Gaia aufwächst. Angetrieben vom mütterlichen Ehrgeiz entwickelt sie sich zu einer Musterschülerin, doch ihr emotionales Gefühlsrepertoir entwickelt sich nur in eine Richtung.

    Meine persönlichen Leseeindrücke

    Mit dem Ende des Buches kam in mir eine Irritation auf, die ich auch nach einigen Tagen nicht abschütteln konnte. Dieses Mal schreibe ich meine Leseeindrücke nicht sofort, sondern lasse einige Tage verstreichen. Ich fange sogar an, ein anderes Buch zu lesen, so verwirrt sind meine Gedanken, wenn ich an die Hauptromanfigur Gaia denke. Schon während der Lektüre konnte ich mit der Ich-Erzählerin wenig anfangen, irgendwann schlug es in Ablehnung um, denn ich kann das Kriminelle weder verstehen noch irgendwie mit ihrer familiären Situation begreifen, akzeptieren oder auch nur ansatzweise erklären. Also – was soll das Ganze?

    "… da ist ein Wesen in mir, ein wütendes, niederträchtiges, das keine Selbstbeherrschung mehr erträgt."

    Gaia wächst in armen Verhältnissen auf. Die familiäre Situation ist prekär, die Mutter hat das Kommando übernommen, der Vater spielt keine Rolle. In diesem Umfeld gelingt ihr eine emotionale Verbindung nur zu ihrem älteren Bruder Mariano. Schon früh fallen psychischen Probleme auf, von allen ignoriert außer vielleicht von Mariano und Cristiano, einem Freund, der erst mit dem Umzug an den Lago di Bracciano, in ihr Leben tritt. Spätestens als die Italienischlehrerin die Auffälligkeiten an Gaias Aufsatz entdeckt, hätte der staatliche psychologische Dienst eingreifen müssen, denn es ist offensichtlich, dass mit dem Mädchen etwas nicht stimmt.

    "Die Frustration meines Vaters tritt in der Art zutage, wie er sich gegen die Räder seines Rollstuhls stemmt, in dem Wissen, dass er nicht aufstehen und eingreifen kann: Wehrlos sieht er zu, wie meine Mutter entscheidet."

    Ihre negative Grundeinstellung, die schon manische Lernerei, die vollkommen absurde Studienwahl, ihre Gewaltbereitschaft und die psychischen Probleme, wenn auch in Giulia Caminitos realistischer Darstellungsfähigkeit durchaus markant beschrieben, können mich weder einfangen noch zu Mitgefühl anregen. Ich lehne die allgemeine Ansicht, dass die Abstammung oder die Lebensumstände in der sozialen Randgesellschaft verantwortlich für auffälliges Verhalten oder sogar die Wiege für Kriminelle seien, klar ab. Gaias Intelligenz, die in ihrem erfolgreichen Abschluss der universitären Laufbahn gipfelt, steht im krassen Unterschied zu ihrem Wesen. Hat sie denn von dem Philosophie-Studium denn gar nichts mitnehmen können? Gerade sie hätte alle Voraussetzungen mitgebracht dieses Vorurteil zu brechen. Es geht hier viel weniger um einen Einblick in die italienische politisch geprägte Gesellschaft als um einen jungen Menschen, der im Leben nicht zurechtkommt und abdriftet.

    "Wir haben keine Handys, haben keinen Fernseher, keinen Computer, wir haben keine Kommunikationsmittel, sind eingeschlossen in die Vergangenheit einer Welt, die im Galopp dahineilt, uns überholt, uns unter ihren harten Hufen zermalmt."

    Sozialen Herkunft ist ein immer aktuelles Thema. Wenngleich „Das Wasser des Sees ist niemals süß“ sich in die Reihe von Romanen des neuen italienischen literarischen Sozialrealismus einordnet, kann er doch literarisch „Arminuta“ nicht das Wasser reichen.

    Fazit

    Der preisgekrönte Roman „Das Wasser des Sees ist niemals süß“ von Giulia Caminito ist ein wütendes Zeugnis einer jungen Frau, der es unmöglich scheint, ihr eigenes Leben in Griff zu bekommen. Giulia Carminitos realistische Darstellungsfähigkeit ist durchaus markant, doch überzeugt hat sie mich nicht.

  1. Das Gegenteil von Wohlfühlliteratur

    In diesem Roman hat die Autorin, wie sie in ihrem Nachwort schreibt, verschiedene Geschichten verarbeitet und ausdrücklich keinen autofiktionalen Roman geschrieben. Und doch hat die erst 35 Jahre alte Giulia Caminito sehr präzise die Erfahrungen ihrer Generation thematisiert. Sie findet für die Geschichte eines Mädchens aus prekären Verhältnissen sprachmächtige Bilder und geht der Frage nach, ob und wie man seine Herkunft abschütteln und die Klassenbarrieren überwinden kann.

    Die Protagonistin ist körperlich wie charakterlich ein rauer, auch ein unbeholfener Mensch, sympathisch ist sie mir nicht geworden. Zunächst habe ich Gaia beneidet – um ihren älteren Bruder, den ich in dem Alter auch gern gehabt hätte. Dann habe ich sie für ihre Hartnäckigkeit, ihre Wut und ihren Einfallsreichtum bewundert. Auch ihre Freundin Iris tut das:

    Iris: Das passt so richtig zu dir.
    Gaia: Was?
    Dass du schießt und gewinnst.
    Warum?
    Weil du so bist, du hast den Mut zu allem. (S. 158)

    Nein, für mutig hält sich Gaia nicht.

    Freundschaft entsteht in dem Moment, wenn ein Mensch zu einem anderen sagt: Was? Du auch? Ich dachte, ich wäre der einzige (S. 255)

    Ja, das kenne ich auch

    Die Autorin baut Spannung auf, treibt die Geschichte voran, erzeugt einen Sog (das Weihnachtsfest mit Mariano und Pandoro, die Party zum 18. Geburtstag), und doch bleibt alles irgendwie fremd, ungewohnt. Nicht greifbar, nicht erreichbar, vor allem in der zweiten Hälfte. Vielleicht liegt es daran, dass ich nie Teil einer Clique war. Daher gebe ich nur vier statt fünf Sterne.

  1. Eine Frage der Klasse

    Ich-Erzählerin Gaia (geb. 1988) wohnt zusammen mit ihren Eltern und drei Brüdern in einer winzigen Wohnung in prekärer Lage von Rom. Gaias Vater ist seit einem Arbeitsunfall querschnittsgelähmt, ihre Mutter Antonia ernährt die Familie, indem sie die Wohnungen der Reichen putzt. Sie regiert mit harter Hand. Alle Familienmitglieder müssen sich nach ihr richten, sie meint es gut, verhält sich aber oft bevormundend dominant, besonders die älteren beiden Kinder leiden darunter. Überlebenskampf verdrängt die Herzenswärme. Antonias Hartnäckigkeit ist jedoch die größere ertauschte Sozialwohnung am Lago Bracciano, einige Kilometer außerhalb der Hauptstadt, zu verdanken. Antonia kämpft für ihre Familie, sie spornt insbesondere Gaia zu schulischen Höchstleistungen an. Sie möchte, dass ihre Tochter den sozialen Aufstieg durch Bildung schafft. Das ist das erklärte Ziel, für das gekämpft wird. Statt Fernsehen gibt es regelmäßige Besuche in der Bibliothek.

    Gaia fällt es jedoch schwer, sich am neuen Wohnort einzuleben. Nachdem ihr älterer Bruder Mariano aufgrund radikaler politischer Ansichten aus der Wohnung geworfen wurde, lasten alle Hoffnungen auf ihr, sie fühlt sich zudem allein gelassen. Bewusst wird Gaia auf ein Gymnasium für Reiche geschickt. Antonia hat leider keine Vorstellung, wie sehr Armut, abgetragene Kleidung, schäbige Schulutensilien und mangelndes Taschengeld das Mädchen dort stigmatisieren und ausgrenzen. Gaia muss täglich um Anerkennung kämpfen. Sie versucht sich anzupassen und übernimmt früh Verantwortung für sich selbst, weil ihre Mutter gern über das Ziel hinausschießt. Doch oft reichen schon Kleinigkeiten, um Spott und Geringschätzung der Schulkameraden herauszufordern. Die üblichen Probleme eines Teenagers erscheinen unter dem Brennglas von Klassenunterschied und Armut ungleich größer.

    Gaia erzählt in Rückblicken aus der Sicht der jungen Erwachsenen, sie schildert prägende Erlebnisse auf dem Weg ins Erwachsenenleben. Das Dasein an der materiellen Untergrenze schränkt die gesellschaftliche Teilhabe enorm ein. Gaia lernt zu improvisieren, konzentriert sich auf Unternehmungen, die nichts oder wenig kosten. Zentrale Bedeutung erlangen die weitgehend unbeschwerten Sommer am See, wo man sich trifft, schwimmt und feiert. Der See sowie das titelgebende Wasser durchziehen den Roman als latentes Motiv. Wir erfahren von kleinen und großen Dramen, von Freundschaft, Verrat und Rache, von tragischem Tod und erster Liebe. Gaias Beziehungen sind kompliziert, was gewiss auch an ihr selbst liegt. Verluste prägen ihr Leben. Zudem lernt sie wie besessen. Ihre Gedanken wirken reflektiert und reif. Doch manchmal hat sie Steine im Bauch, dann brodelt die Wut so sehr in ihr, dass sie sich mit unberechenbarer Gewalt rücksichtslos zur Wehr setzt…

    Die junge Frau lässt den Leser an ihren Gefühlen, an ihrer Innenwelt intensiv teilhaben. Sie wirkt dabei distanziert, beinahe unterkühlt. Sie beobachtet ihr Umfeld scharf und urteilt resolut, sie zeigt wenig Empathie für andere – zu sehr ist sie mit ihrem eigenen Schicksal beschäftigt. Gaia schildert auch überaus schmerzhafte Erlebnisse mit wenig Emotion, sie lässt jegliche Larmoyanz vermissen. Erst in späteren Jahren findet eine Entwicklung, ein Wandel statt. Gaias treffende, einprägsame Sprachbilder drücken ihre einsame, deprimierte Lage deutlich aus. Manche Sätze muss man wirken lassen, sie erzeugen Gänsehaut. Die Sprachgewalt der Autorin ist bewundernswert:

    „Sie (Antonia) weiß, dass sie einen Fehler gemacht hat, und sie weiß, dass vielen ihre Fehler erlassen werden, aber uns nicht, wenn du unten bist, zahlst du für Fehler das Doppelte, denn du hast kein soziales Netzwerk, das dich schützt, du hast keine Beziehungen, du hast kein Geld, um dir die Absolution zu erkaufen.“ (S. 161)

    „Es ist das erste Mal, dass mir jemand die Frage stellt, was ich will. Niemand hat es bisher unternommen, mir einen Wunsch zu erfüllen, alle sind davon ausgegangen, dass ich so zufrieden bin, wie ich bin, dass ich nichts zu fordern, meinem Leben nichts hinzuzufügen habe.“ (S. 199)

    Gaia ist keine durchweg sympathische Protagonistin. Sie hat Ecken und Kanten, sie macht schwerwiegende Fehler. Dennoch kommt sie mir hochgradig glaubwürdig vor. Auch ihre Mutter Antonia strahlt immense Stärke aus. Beide müssen sich gegen eine rauhe Welt behaupten, sie reiben sich an den Umständen. Eindeutig stehen die Frauenfiguren in diesem Roman im Vordergrund, die Männer haben eine eher untergeordnete, begleitende Rolle. Allen Figuren haftet ein großer Facettenreichtum an.

    Ich habe diesen Roman begeistert gelesen. Er öffnet die Augen, führt aus der eigenen Wahrnehmungsblase heraus. Hier wird keine gewöhnliche Coming-of-Age Geschichte erzählt. Hier wird ein zeitgenössisches Gesellschaftsbild gezeichnet. Es bleibt zu hoffen, dass sich die sozialen Unterschiede in Deutschland nicht ganz so krass darstellen wie in Italien, dessen soziale Standards offenbar hinter unseren zurückliegen.
    In einer kurzen Anmerkung betont die Autorin, dass der vorliegende Roman im Wesentlichen die Leben dreier Frauen schildert: „Dies ist keine Biografie, keine Autobiografie und auch keine Autofiktion, es ist eine Geschichte, die sich Bruchstücke vieler Leben einverleibt (…).“ (S. 313) Das ist Giulia Caminito fabelhaft gelungen. Auch ein großes Kompliment an die Übersetzerin Barbara Kleiner: Die Übertragung ins Deutsche lässt keinerlei Wünsche offen.

    Für mich mein erstes Jahres-Highlight 2023! Dringende Leseempfehlung an alle Leser, die intensive Geschichten von hoher Sprachqualität schätzen. Der Roman eignet sich perfekt für Lesekreise. Einfach grandios!