Die Hebamme

Buchseite und Rezensionen zu 'Die Hebamme' von Edvard Hoem
4.75
4.8 von 5 (4 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Die Hebamme"

Großartiges Porträt einer mutigen Frau Marta Kristine Andersdatter Nesje, die Ururgroßmutter des Autors, ging 1821 zu Fuß 600 km von der Westküste Norwegens nach Christiania, um Hebamme zu werden. Danach übte sie ihren Beruf fünfzig Jahre lang am Romsdalfjord aus und verfolgte beharrlich ihr Ziel, Frauen zu helfen – wobei sie lange gegen Misstrauen und Armut ankämpfen musste. Edvard Hoem lässt Marta Kristine mit enormer dichterischer Kraft hervortreten. Er erzählt feinfühlig von ihrer tiefen Liebe zu Hans, ihrem Lebensalltag mit elf Kindern und von den unzähligen Hebammenfahrten über den Fjord. Das Bild einer ganzen Epoche, einer Landschaft – und insbesondere des Hebammenberufs vor 200 Jahren – tritt atmosphärisch und detailgetreu hervor. Das Einfache dieses Lebens und die Zuversicht der Charaktere vermögen uns gerade heute besonders zu berühren.

Autor:
Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:300
Verlag:
EAN:9783825152369

Rezensionen zu "Die Hebamme"

  1. Spannende Zeitgeschichte

    Nach dem Klappentext habe ich eine etwas andere Geschichte erwartet, als ich bekommen habe. Ich dachte das Buch startet mit Marta Kristines Wanderung vom Romsdalfjord bis nach Christiana, um dort zur Hebamme ausgebildet zu werden. Stattdessen wird diese Reise leider nur auf wenigen Seiten abgehandelt, was ich sehr schade finde. Über ihre Tätigkeit als Hebamme wird immer mal wieder berichtet, allerdings habe ich auch hier mehr erwartet. Das soll jetzt aber nicht heißen, dass das Buch schlecht ist. Ganz im Gegenteil. Mir hat es gut gefallen.

    Die Geschichte beginnt mit einer Bootsfahrt über den Fjord, als Marta Kristine sieben Jahre alt ist und mit ihren Eltern umzieht. Durch die Schilderung ihrer Kindheit lernt man sie gut kennen und schließt sie ins Herz. Ich mag es, dass Marta Kristine vorlaut ist. Im Gegensatz zu anderen Kindern hinterfragt sie die Dinge und nimmt sie nicht einfach so hin. Auch ihren späteren Mann Hans trifft der Leser. Marta Kristine wird tiefgründig dargestellt, die anderen Figuren wie beispielsweise ihre Kinder bleiben eher blass, was ich schade finde.

    Der Großteil des Buches besteht aus Marta Kristines und Hans gemeinsamem Leben, die Arbeit auf dem Hof, der Alltag mit Geldsorgen und ihren elf Kindern sowie allgemein dem Leben am norwegischen Fjord. Da Hans sein Leben lang mit den Geschehnissen im Krieg zu kämpfen hat, ist es für Marta Kristine und ihre Familie nicht immer leicht. Das Buch endet mit dem Tod der Hebamme, wodurch es manchmal große Zeitsprünge in der Geschichte gibt.

    Ich habe gerne Marta Kristines Leben verfolgt und erfahren, wie es sich vor 200 Jahren auf dem Land an einem Fjord in Norwegen lebte. Die Geschichte liest sich größtenteils wie ein historischer Roman, manchmal aber auch wie eine Biografie. Und ich muss sagen, dass die Übersetzung nicht immer geglückt ist, da sich ein paar unklare Stellen und unglückliche Formulierungen ins Buch geschlichen haben. Ich hatte dank des größtenteils anschaulichen Schreibstils das Gefühl, ein Stück Zeitgeschichte mitzuerleben, denn Marta Kristine war die Ururgroßmutter des Autors.

    Fazit:

    Auch wenn das Buch ganz anders ist als erwartet, lohnt es sich doch, es zu lesen. Es gibt einen guten Einblick in historische Zeiten und das damalige Familienleben.

  1. Ein Frauenleben, eine Landschaft und fast ein Jahrhundert

    "Sie lebten so, wie es Menschen zu allen Zeiten in Norwegen und dem Norden getan haben: Sie lebten mit den Jahreszeiten, die gerade hier so wechselhaft waren." (S. 320)

    Edvard Hoem, geboren 1949 im westnorwegischen Molde, ist als Romanautor, Dramatiker und Lyriker in seiner Heimat sehr bekannt und vielfach ausgezeichnet. Besonders erfolgreich sind seine Romane über sich und seine Vorfahren aus Romsdal, von denen auf Deutsch 2007 "Die Geschichte von Mutter und Vater" und 2009 "Heimatland. Kindheit" erschienen. "Die Hebamme" führt nun weiter zurück und schildert das Leben seiner Ururgroßmutter Marta Kristine Anderdatter Nesje, die von 1793 bis 1877 am Romsdalsfjord lebte und über 50 Jahre lang dort die erste staatlich bestellte Hebamme war:

    "Das war ein Leben. Marta Kristine Andersdatter Nesje hatte mehrere Zeitalter durchlebt, sieben Könige überlebt und unter vieren gedient. […] Sie hatte immer genug zu tun gehabt und […] mehr als tausend Kinder in Empfang genommen." (S. 335)

    Ein aufgewecktes Mädchen
    Der erste Teil des Romans beginnt, als Marta Kristines Familie 1800 die Fjordseite wechselt und in eine Häuslerkate in Nesje zieht. Der Vater, Anders Knudsen, Schuhmacher und eine der beeindruckendsten Figuren des Romans, ist klug und vorausschauend und schickt seine Tochter in die Dorfschule. Dort lernt sie ihren späteren Mann Hans Nesje kennen, den freundlichen blonden jüngsten Sohn des Großbauern. Es ist ein langer Weg bis zur Hochzeit im Juli 1817, als sie bereits eine uneheliche Tochter von einem anderen hat und durch traumatisierende Kriegserlebnisse bei Hans der Grundstock für seine lebenslange Schwermut gelegt ist.

    Marta Kristines Tür zur Welt
    Beharrlich verfolgt Marta Kristine, angeregt durch den von ihr verehrten Pastor, den Plan, sich zur Hebamme ausbilden zu lassen, eine Möglichkeit, die nur „sittlichen Frauen“ offenstand. Im Herbst 1817 kann sie trotzdem als eine der Ersten einen sechswöchigen Kurs in Molde belegen.

    Im zweiten Teil ist Marta Kristine ordentlich zur Hebamme bestellt, wird jedoch aufgrund von Armut, Misstrauen und Aberglaube trotz der von der Kanzel verkündeten Hebammenverordnung kaum gerufen. Nachdem sie drei weitere Kinder geboren hat, wandert Marta Kristine deshalb im Herbst 1821 600 Kilometer zu Fuß nach Christiania, dem heutigen Oslo, um ihre Qualifikation am dortigen Geburtshilfestift zu vervollständigen. Als sie nach neun Monaten zurückkehrt, hat sich Hans‘ Zustand endgültig verschlechtert.

    Zehn eheliche Kinder bringt Marta Kristine zur Welt, die sie mit Hans und der Hilfe ihrer Eltern und der unehelichen Tochter in ständiger Armut in einer Häuslerkate großzieht. Obwohl sie auch Einkünfte aus der Pockenimpfung bezieht und Hans sich im Fischen versucht, verliert sie nach seinem frühen Tod fast alles an Gläubiger und muss noch einmal neu beginnen.

    Der dritte Teil ist dem Leben Marta Kristines als Witwe gewidmet.

    Fakten und Fiktion
    "Es ist ein Roman, geschrieben auf der Grundlage dokumentierter Fakten. Die Darstellung der Personen fußt auf vereinzelten, spärlichen Informationen. Niemand weiß mehr, wer sie waren." (Vorwort)

    Streng chronologisch und mit vielen Fakten aus Archiven gespickt, zeichnet Edvard Hoem auf beeindruckend glaubwürdige Weise die Welt des 19. Jahrhunderts in Norwegen. Die außergewöhnlich starke Frauenfigur, die bewegende Liebesgeschichte, die Anfänge der professionellen Geburtshilfe, das Porträt der notleidenden bäuerlichen Gesellschaft und die alles beherrschende Natur – darüber erzählt Edvard Hoem vor dem Hintergrund der Geschichte Norwegens so mitreißend gut, dass ich mich beim Lesen ganz und gar verloren habe.

  1. Ein großartiges Buch!

    !ein Lesehighlight 2021!

    Klappentext:

    „Marta Kristine Andersdatter Nesje, die Ururgroßmutter des Autors, ging 1821 zu Fuß 600 km von der Westküste Norwegens nach Christiania, um Hebamme zu werden. Danach übte sie ihren Beruf fünfzig Jahre lang am Romsdalfjord aus und verfolgte beharrlich ihr Ziel, Frauen zu helfen – wobei sie lange gegen Misstrauen und Armut ankämpfen musste.

    Edvard Hoem lässt Marta Kristine mit enormer dichterischer Kraft hervortreten. Er erzählt feinfühlig von ihrer tiefen Liebe zu Hans, ihrem Lebensalltag mit elf Kindern und von den unzähligen Hebammenfahrten über den Fjord. Das Bild einer ganzen Epoche, einer Landschaft – und insbesondere des Hebammenberufs vor 200 Jahren – tritt atmosphärisch und detailgetreu hervor. Das Einfache dieses Lebens und die Zuversicht der Charaktere vermögen uns gerade heute besonders zu berühren.“

    Dieses Buch entführt einen bewusst unbewusst in eine andere Zeit, in ein anderes Land zu völlig fremden Personen, die man aber dennoch versteht und die für ihren großen Traum kämpfen. Die Geschichte rund um Marta Kristine ist so extrem bildhaft beschrieben und so gut in die passenden Worte verpackt, dass ich dieses Buch in einem Rutsch gelesen habe. Die starken bildhaften Beschreibungen bieten eine enorme Atmosphäre und Kraft, das man als Leser komplett abtaucht. Die Landschaftsbeschreibungen sind ein Traum aber auch die zarte Beschreibungen der Seele von Marta Kristine, die doch nach außen so resolut und entscheidungsfreudig rüberkommen muss. Ihr Traum, der Berufung der Hebamme nachzukommen, sitzt so fest, das sie selbst eine sehr lange Strecke zu Fuß zurück legt um ihren Traum Form zu geben. Aber nicht nur das - mit ihrer Art gewinnt sie das Vertrauen der Frauen und sieht Dinge, die manchmal besser im Dunklen geblieben wären….Die Zeit ist keine leichte, schon gar nicht für eine Frau.

    Man schließt dieses Buch und ist so dermaßen erstaunt, was damals alles bereits möglich war, wie leicht aber auch einfach die Leute lebten und vergleicht mit dem Leben von heute. Diese Buch hallt mit enormer Stärke nach und muss erstmal verdaut werden. Ich hätte nie gedacht, das so eine besondere Geschichte hier drin verborgen ist. Ein echtes Lesehighlight 2021, das 5 von 5 Sterne verdient.

  1. 5
    16. Aug 2021 

    Eindrucksvolles Porträt einer starken Frau und ihrer Zeit

    Der norwegische Autor Edvard Hoem hat mich vor Jahren mit seinem Roman „Die Geschichte von Mutter und Vater“ beeindruckt, ein Buch über das Leben seiner Eltern; auch das Nachfolgebuch „ Heimatland, Kindheit“ habe ich gerne gelesen. Deshalb bin ich mit großen Erwartungen an seinen neuen Roman „ Die Hebamme“ herangegangen und ich wurde nicht enttäuscht. Auch hier wurde er in seiner eigenen Familiengeschichte fündig. Es ist die Lebensgeschichte seiner Ururgroßmutter Marta Kristine, die von 1793 bis 1877 lebte , fünfzig Jahre als Hebamme arbeitete und selbst elf Kinder bekam.
    Der Autor recherchierte dazu in verschiedenen Archiven und Kirchenbüchern, die Leerstellen füllte er mit seiner schriftstellerischen Phantasie. Dazu schreibt er im Vorwort: „ Die Darstellung der Personen fußt auf vereinzelten, spärlichen Informationen. Niemand weiß mehr, wer sie waren.“
    Aber wie sie hätten sein können, davon bekommt der Leser eine genaue Vorstellung. Edvard Hoem beschreibt anschaulich und einfühlsam das Leben seiner Vorfahren und vermittelt gleichzeitig ein lebendiges Bild jener Zeit.
    Marta Kristine, auch Stina genannt, wächst als älteste Tochter von Anders Knudsen, einem Schuhmacher und Schlachter und dessen wesentlich älteren Ehefrau Karen auf. Schon früh erweist sich das Mädchen als eigensinnig und bedächtig. Sie beobachtet alles genau, was um sie herum vorgeht und macht sich ihre eigenen Gedanken dazu.
    In der Schule freundet sie sich mit Hans, dem blonden, hübschen Bauernsohn, an und beide wissen, dass sie füreinander bestimmt sind. Es braucht trotzdem ein paar Umwege, bis sie ein Ehepaar werden. Sie bauen ein kleines Haus und leben hier mit ihrer immer größer werdenden Familie.
    Auch der Berufswunsch Hebamme ist früh in Marta Kristine lebendig. Ausschlaggebend hierfür war ein Schlüsselerlebnis in ihrer Kindheit. Bei ihrer Ankunft in der neuen Heimat fällt dem Mädchen ein Totenschädel auf einem Pfahl auf, weithin sichtbar. Der enthauptete Kopf einer Kindsmörderin, der zur Strafe und als Mahnung an alle hier ausgestellt wurde.
    Marta Kristine hadert als Kind mit ihrer Rolle als Frau. So viele Frauen sterben bei der Geburt ihrer Kinder, andere wiederum sind verbraucht, bevor sie wirklich alt sind.
    Diese Überlegungen bestätigen die junge Frau in ihrem Entschluss, Hebamme zu werden. Dabei kann sie den Frauen hilfreich beiseite stehen.
    Unterstützung findet sie hier bei Pastor Stubbe, der ihr ein Handbuch über Geburtshilfe zukommen lässt und später ihr eine Möglichkeit zur Ausbildung verschafft. Weil dieser kurze Lehrgang aber nicht bei allen akzeptiert wird, entschließt sich Marta Kristine ein paar Jahre später, sich umfassend weiterzubilden. Sie nimmt deshalb den 600 km weiten Weg auf sich, von der Westküste Norwegens bis in die Hauptstadt Christiana, alles zu Fuß. Dafür muss sie auch über Monate hinweg ihren Mann und ihre Kinder zurücklassen.
    Trotzdem hat sie es weiterhin mit Misstrauen und Vorbehalten gegenüber ihrem Berufsstand zu tun. Es war nicht üblich, jemanden Fremden zu einer Geburt zu holen. Frauen aus der Verwandtschaft oder der Nachbarschaft sollten genügen bei einer der natürlichsten Dinge der Welt. Der norwegische Staat beschloss ein Gesetz, wonach es Pflicht war, eine Hebamme bei einer Geburt zuzuziehen. Er wollte so gegen die hohe Kindersterblichkeit vorgehen. Trotzdem weigerten sich manche, denn ihnen fehlte schlichtweg das Geld, um die Hebamme zu bezahlen. Interessant in diesem Zusammenhang war auch, dass diese Geburtshelferinnen ebenfalls zuständig waren für die Pockenimpfung. Von der Kanzel aus wurde der Aufruf zur Impfung verkündet, weil man auf diesem Wege alle erreichte. Wer sich hier weigerte und später kein Impfattest vorlegen konnte, wurde nicht konfirmiert. Ein wirksames Druckmittel damals.
    Der Leser begleitet Marta Kristine auf ihrem langen Lebensweg, auf dem Schicksalsschläge nicht ausbleiben. Zwei Kinder muss das Ehepaar früh zu Grabe tragen. Auch ist die Ehe zwischen Hans und Marta Kristine nicht glücklich, trotz der Liebe, die beide füreinander empfinden. Ein Trauma aus Kriegstagen belastet Hans mit den Jahren immer mehr. Seine Schwermut drückt ihn nieder, so dass er oft nicht in der Lage ist zu arbeiten. Für seine hochfliegenden Pläne leiht er sich immer wieder Geld von Verwandten und Freunden, ohne dass irgendein Projekt von Erfolg gekrönt wäre. Als Hans mit knapp fünfzig Jahren stirbt, hinterlässt er seiner Familie einen Berg von Schulden. Die Kinder müssen schon früh mitarbeiten, doch ohne die Hilfe von Vater und Schwager hätte es Marta- Kristine wohl kaum geschafft. Doch sie lässt sich nicht unterkriegen. Als sie 37 Jahre später stirbt, kann sie auf ein zwar entbehrungsreiches , aber sinnhaftes Leben zurückblicken.
    Edvard Hoem hat mit diesem Roman das glaubhafte Portrait einer starken und selbstbewussten Frau geliefert, die allen Widrigkeiten zum Trotz ihren Weg geht.
    Dabei vermittelt er einen interessanten Einblick in das dörfliche Leben im 18. Jahrhundert in Norwegen. Die Zeiten waren hart und wurden kaum besser. Die Napoleonischen Kriege hinterließen auch in diesem Winkel Norwegens ihre Spuren. Dazu kamen Missernten, die Not und Hunger zur Folge hatten. Die Menschen hier am Fjord lebten vom Fischfang, waren aber auch Bauern und betrieben Viehzucht. Trotzdem reichte es oft nicht zum Leben.
    Dies alles beschreibt der Autor in einer klaren und nüchternen, trotzdem kraftvollen Sprache. Voller Poesie ist die bildhafte Beschreibung der norwegischen Landschaft im Wechsel der Jahreszeiten.
    „ Die Hebamme“ ist ein eindrucksvoller und faszinierender Roman über eine starke Frau und ihre Zeit, dem ich viele Leser wünsche.