Bis wieder einer weint: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Bis wieder einer weint: Roman' von Eva Sichelschmidt
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5 von 5 (1 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Bis wieder einer weint: Roman"

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:480
Verlag:
EAN:9783498062934

Rezensionen zu "Bis wieder einer weint: Roman"

  1. Familiäres Portrait der jungen Bundesrepublik

    Der Roman wird im Wesentlichen aus zwei Erzählperspektiven erzählt. Die ersten Erinnerungen der Ich-Erzählerin Suse Rautenberg gehen zurück zum Tag der Beerdigung ihrer Mutter im Juni 1971. Da ist Suse nur 10 Monate und ihre Schwester Asta 6 Jahre alt. Kann sich Suse wirklich an diese beklemmenden Bilder erinnern? Oder hat man ihr davon erzählt? Oder ist es ihre blühende Fantasie, die diese Szenen immer wieder hervorruft?

    Die zweite auktorial-personale Erzählebene geht in der Zeit zurück, berichtet von der außergewöhnlich hübschen Arzttochter Inga, die mit dem beliebtesten Junggesellen der Stadt, dem Unternehmersohn Wilhelm Rautenberg, verlobt ist. „Wilhelm ist schon Mitte dreißig, aber keiner sieht so schmuck aus wie er und hat auch nur annähernd so viel Moos, wie man hier sagt.“ (S. 19) „Sie sind füreinander mehr als nur eine gute Partie. Sie hat den Stil und er das Geld.“ (S. 21)

    Kennengelernt haben sie sich im Reitstall. Inga liebt das privilegierte Leben im Wohlstand sowie mit den Partys und Gesellschaften der bürgerlichen Elite des Ruhrgebiets. Die Rautenberg-Villa wurde für Ingas Einzug umgebaut, fast alle Möbel sind neu. Einziger Wermutstropfen ist die herrische Schwiegermutter Marianne, die mit im Haus leben wird. Alles wie im Märchen, nur wundert sich Inga über Wilhelms zurückhaltende Art, ist er doch wenig leidenschaftlich und mitunter gleichgültig in Bezug auf ihre Person. Gemeinsam mit seinem Bruder leitet er die väterliche Firma, seine Passion gehört aber der Dressurreiterei, für gute Rassepferde investiert er eine Menge Geld: „Das Reiten ist ja schließlich nicht sein Hobby. Er hat Großes vor, mit seinen Pferden und auch mit sich. „Die Reiterei ist meine Bestimmung“, sagt er.“ (S. 20)
    Wir begleiten Inga bis zu ihrem frühen Tod. Es ist nicht alles Gold, was glänzt. Der Leser nimmt Teil an ihrem (Ehe-)Leben, ihren Sorgen, Glücksmomenten und Emotionen.

    Suse muss nach Ingas Tod zu ihren Großeltern mütterlicherseits nach Schwelte übersiedeln. Asta bleibt beim Vater. Sie war schon immer ein Papakind. Diese Eigenschaft wird nun verstärkt, was es der kleinen Schwester bei Besuchen unglaublich schwer macht, die Eifersucht ist groß. „Der Vater war mir fremd und unheimlich. Nichts bei ihm war wie bei den Menschen meiner häuslichen Umgebung.“ (S. 33)

    Die Kindheit bei Oma und Opa ist jedoch auch nicht einfach, die alten Leute sind nicht auf ein Kleinkind eingestellt. Die Arztpraxis ist im Haus untergebracht und die Großmutter arbeitet dort mit, so dass Suse oft sich selbst überlassen wird. Trotzdem genießt sie Ordnung und Struktur, etwas, das sie beim Vater gänzlich vermisst. Der Schock erwartet sie zur Einschulung: Nun muss das Mädchen dauerhaft im väterlichen Haus wohnen, eine Tatsache, unter der es sehr leidet. Der Haushalt ist unorganisiert, das Personal wechselt häufig und der Vater ist seinen wechselhaften Stimmungen unterworfen. Seine Gedankenlosigkeit tut weh. Suse bekommt Schwierigkeiten in der Schule, wird systematisch ausgegrenzt.
    Wirtschaftlich geht es zunächst weiter bergauf. Ein neues Anwesen wird gebaut, sportliche Erfolge erzielt. Irgendwann kommt aber die Wende: Der labile Wilhelm wendet sich einem außergewöhnlichen Freundeskreis zu, vernachlässigt seine Pflichten, mit der Firma geht es bergab…

    Viele Details aus den 1970er Jahren machen das Buch zu einer wahren Fundgrube für Menschen, die in dieser Zeit aufgewachsen sind: Fast beiläufig werden Werbespots, Redewendungen, Musiktitel eingeblendet, die dem Leser ein „Ach ja, genau so war es,“ entlocken. Es wird viel in Gastwirtschaften getrunken und Rauchen in der Wohnung ist en vogue. Babys werden mit Milupa gefüttert, denn Stillen macht Hängebrüste – wer will die schon? Die Helden der Kinderbücher: Karlsson vom Dach, Pinocchio und das kleine Gespenst. Menschen, die anders sind, werden ausgegrenzt und bloßgestellt, sei es wegen eines Handicaps, der Hautfarbe oder der sexuellen Orientierung. Niemand denkt sich etwas dabei. Gute Verbindungen und Seilschaften gehören gepflegt und nicht verteufelt. Neben der wirklich interessanten, vielschichtigen Familiengeschichte bietet dieser Roman ein gutes Gesellschaftsportait, in dem vieles verdrängt und verschwiegen wird. So gibt es auch Lügen und Notlügen, letzterer dürfen sich nur die Erwachsenen bedienen.

    Der Roman hat mich von Anfang an gefesselt. Die beiden agierenden Familien sind sehr genau gezeichnet. Beide Erzählebenen sind gleichsam spannend. Mit der ersten Szene, dem Tag von Ingas Beerdigung, breitet sich eine Melancholie aus, die während des gesamten Romans anhält. Trotzdem gibt es auch humorvolle Szenen, die sich aus dem täglichen Leben mit der aufgeweckten Suse ergeben. Wilhelm ist zwar kein Sympathieträger, man lernt ihn aber immer besser kennen, so dass man am Ende sogar ein gewisses Verständnis für seine Lage hat. Das ist es, was den Roman so außergewöhnlich macht: die Komplexität der Figuren, die sich mit ihren Stärken und Schwächen glaubwürdig entwickeln und viel Potential zum Nachdenken bieten. Insofern eignet sich der Roman ideal für Lesekreise.

    Den Spruch „Bis wieder einer weint“, kennt wohl jeder, der sich als Kind einmal gestritten hat. Ich empfehle den Roman uneingeschränkt allen, die sich ein intensives, kitschfreies Leseerlebnis wünschen und vielleicht auch in die Lebenswelt der eigenen Kindheit eintauchen möchten.
    Zu erwähnen ist die hochwertige Ausstattung des Rowohlt-Hardcovers mit verschiedenen Papiersorten und Lesebändchen.

    Der Roman steht völlig verdient auf der Longlist zum DBP 2020.

     

    4,5/5 Sterne                     netgalley           
    Dezember 2020