Die Vögel
![Buchseite und Rezensionen zu 'Die Vögel' von Tarjei Vesaas](https://m.media-amazon.com/images/I/41UYeDqtFXL.jpg)
Mattis!
Mattis ist Ende 30 und lebt mit seiner wenig älteren Schwester Hege in einem einfachen Häuschen am Rande eines Dorfes nah an einem See in Norwegen. Die Schwester verdient beider Unterhalt, mehr schlecht als recht, mit dem Stricken von Pullovern. Das Essen ist knapp, das Haus und das Inventar karg und einfach. Aber Mattis kann nichts dafür, denn Mattis bekommt keine Arbeit.
Er hat es versucht, doch seine Gedanken geraten ihm bei der Arbeit immer wieder durcheinander und so ist er für niemanden eine Hilfe. Mattis hat also den ganzen Tag Zeit umherzustreifen, die Umgebung zu beobachten und den Leuten zuzuhören. So weiß er auch, dass die Dorfbewohner heimlich die zwei verdorrten Baumwipfel, die zwischen dem satten Grün des Waldes herausstechen, Mattis und Hege getauft haben, so wie er und seine Schwester heißen. Im tiefsten Innern weiß er auch, was das zu bedeuten hat. Ein goßes Wunder ist für ihn der Schnepfenflug, genau über seinem Haus, ein großes Unglück, dass er den Jäger auf diesen Vogel aufmerksam gemacht haben könnte, der ihn schließlich tötet.
Große Angst hat er vor dem Gewitter und vor dem Verlassenwerden. Seine Schwester ist für ihn alles, sie gibt ihm Essen, sie ist ein kluger Kopf, er macht, was sie ihm sagt.
Angespornt von einem aufregenden Ereignis, beschließt Mattis eines Tages, mit seinem maroden Boot Fährmann zu werden. Sein einiziger Passagier bleibt Jorgen, doch mit Jorgen verändert sich seine ganze Welt. Aber Mattis ahnt es bereits, die Anzeichen waren eindeutig, schlug der Blitz doch einen der toten Wipfel entzwei. Und jetzt bleibt Mattis nur noch "sich kaputt zu denken" und dem Schicksal auf die Sprünge zu helfen.
Die Geschichte stammt schon aus dem Jahr 1957 und wurde von Knausgard als "bester norwegischer Roman, der je geschrieben wurde" bezeichnet. Bei mir erzeugte dieser Roman verschiedene Ambivalenzen. Zum einen hatte ich wärend des Lesens ständig Mattis als Kind vor Augen, was seinem kindlichen Gemüt zuzuschreiben ist, aber auch in der Zeit war ich um 100 Jahre in die Vergangenheit versetzt und wurde "unsanft" durch vorbeirauschende Autos aus derselben geholt. Und dann durchkreuzten meine Erwartungen ständig die tatsächlichen Ereignisse in dieser Geschichte. Immerzu fürchtete ich ein Ausrasten Mattis, dachte, nun schlägt er zu, oder zerstört etwas, was aber kein einziges Mal geschah. Und auch die Dorfbewohner haben einen milden Umgang mit dem Dussel. Was also sollte zum Schluss noch passieren?
Die ruhige intensive Erzählweise erzeugte eine Spannung, die erst aufgelöst wird, wenn man das Buch zuklappt und über die Geschehnisse anfängt nachzudenken. Weder Schuld noch Systemänderungen habe ich hier gesucht, der Gedanke der logischen Schlussfolgerung blieb übrig und brachte mich damit ins Fahrwasser des Dussels! Große Erzählkunst!
Es gibt diese Bücher, bei denen man nach dem Lesen das Gefühl hat, eine ganze Weile kein neues Buch mehr anfangen zu können. Dieses hier ist so ein Buch. Es ist kein reines Lesevergnügen, aber man wurde ganz tief in eine Tragödie hineingezogen, aus der man nur schwer wieder auftaucht. Dieses Buch nimmt mit.
Mattis und Hege sind Geschwister, nicht mehr ganz jung, aber ihr Leben lang zusammen. Seit dem Tod ihrer Eltern, kümmert sich Hege um ihren Bruder, der es nicht schafft, einer geregelten Arbeit nachzugehen. Er möchte schon gerne, er ist gerne unter Menschen, will helfen, will nicht abhängig sein, etwas leisten, das beachtet wird. Aber auch bei den einfachsten Arbeiten verwirren sich seine Gedanken, schweifen ab, wollen etwas anderes tun, es ist zum Verrücktwerden. Die Menschen im Dorf nennen ihn Dussel, wenn sie meinen, er hört es nicht, aber er hört viel. Er hört viel und er denk viel, analysiert knallhart seine ausweglose Situation.
Man kann ihn gut verstehen, sieht quasi hinein in Mattis verwirrten Kopf, nur leider ist das kein Spaß. Er ist anstrengend, nervtötend und man kann auch nachvollziehen, wenn Hege ab und zu genervt und frustriert in ihr Zimmer geht.
Was so besonders daran ist, dass eine Schnepfe regelmäßig über das Haus fliegt, das sieht wohl eigentlich nur Mattis, aber der Leser auch ein klein wenig. Dieses Buch schafft es, dass man beide Seiten sieht, die da in einer ausweglosen Situation festsitzen, bis sich tatsächlich etwas ändert.
„Oben gingen Murmeln und Reden weiter. Ein rundes Lachen kullerte los und fiel wie eine Kugel zu Boden. So konnte Hege also lachen, wenn sie sich über etwas freute. Hatte er das nicht gewusst?“
Die Sprache ist vermeintlich einfach, aber dennoch unglaublich plastisch und poetisch. Ein großes Kompliment an den Übersetzer, der hier ein Kunststück vollbracht hat. Ich kann nicht beurteilen, wie nah dieser Text dem Original kommt, das in einem norwegischen Dialekt verfasst wurde, aber er ist eigen, besonders und ein Erlebnis.
Auch das Nachwort sollte beachtet werden, das eine schöne Interpretation und interessante Hintergrundinformationen liefert und damit das Buch wunderbar abrundet.
Dieses Buch entwickelt einen Sog, zieht einen hinein und auch wenn objektiv betrachtet nicht viel passiert, meint man trotzdem hinterher, etwas Besonderes erlebt zu haben.
Ich bin beeindruckt.
Mattis, der Fährmann
Diesen Roman haben wir dem von mir sehr geschätzten Guggolz-Verlag zu verdanken, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, alte Auflagen der nord- und osteuropäischen Literatur zu entdecken, neu zu übersetzen und uns so wieder zugänglich zu machen.
Von Tarjei Vesaas (1897-1970) las ich im letzten Jahr bereits "Das Eisschloss". Vesaas beeindruckt erneut mit seiner poetischen Sprache, der genauen Figurenbeschreibung und einer symbolträchtigen, intensiven Geschichte um ein Geschwisterpaar. Außerdem spürt man, wie sehr er seine norwegische Heimat liebt. Landschaft, Seen, Wetterphänomene und Tierwelt werden spür- und sichtbar für den Leser.
Im Zentrum dieses Romans stehen Mattis und seine 40-jährige, um drei Jahre ältere Schwester Hege. Beide bewohnen ein Häuschen am See nicht weit vom nächsten Ort entfernt. Hege muss mit Strickarbeiten für den Lebensunterhalt der beiden sorgen. Denn Mattis ist zurückgeblieben. Die Dorfbewohner nennen ihn "Dussel", er selbst bewundert alle Schnellen, Klugen, all diejenigen, deren Gedanken nicht so flott fortspringen wie seine eigenen.
Mattis hat sich eine kindliche Naivität bewahrt, mit der er die Welt um sich herum betrachtet. Vor Gewittern hat er riesige Angst, die Flugbahn zweier Schnepfen oberhalb ihres Hauses gerät für ihn zum symbolträchtigen Wunder, das ihn nicht zur Ruhe kommen lässt.
Er ist schon mit einfachen Feldarbeiten überfordert, freut sich aber riesig, wenn er vom Bauern als Arbeitskraft ernst genommen wird und einen angemessenen Lohn bekommt.
Auch für Hege ist die Situation nicht einfach, nicht immer hat sie die Geduld, sich mit dem Bruder liebevoll auseinanderzusetzen:
"Hege drückte alles weg, was herauswollte. So lange nagte schon das Unglück mit ihrem einfältigen Bruder an ihr, dass sie zusammenzuckte und einen Stich verspürte, wenn Mattis das Wort denken verwendete." (S.8)
Als Mattis per Zufall den jungen Holzfäller Jorgen mit ins Haus bringt, werden die Karten noch einmal ganz neu gemischt. Mattis kann die Veränderung zwar nicht genau greifen, empfindet sie aber als bedrohlich.
Dieses Buch besticht durch seine immanente Sensibilität. Es gelingt dem Autor konsequent, die Perspektive von Mattis einzunehmen und glaubwürdig zu transportieren. Man spürt seine inneren Nöte, seine euphorische Freude über den Schnepfenstrich, seinen Kummer darüber, ein Außenseiter zu sein und seine Angst, Hege zu verlieren.
Mattis spürt, dass er anders ist: "Er schaute ihnen nach und fand, sie besaßen genau das, wovon er träumte: Die drei Dinge (Klugheit, Schönheit, Kraft). Diese Leute bestanden aus nichts anderem als genau aus diesen drei Dingen. Sie genossen es, dass sie so waren, und dachten nicht weiter darüber nach, wussten nichts davon, so sah es aus." (63)
"Die Vögel" ist ein extrem entschleunigendes Buch. Man darf keine Spannungskurve erwarten. Trotzdem entwickelt der Roman einen Sog, weil man spürt, dass sich etwas zusammenbraut, dass es so nicht weitergehen kann...
Ein intensives, wunderbar geschriebenes Buch, dem ich ganz viele Leser wünsche!